Ein Jubiläum, wie Aumenau es in diesem Jahr feiert, bietet eine gute Gelegenheit, die Zeit einmal zurück zu drehen. Umso spannender, wenn es sich um 1250 Jahre handelt. So habe ich mich auf Spurensuche meines eigenen Berufsstandes begeben.
Der vorliegende Artikel ist Ergebnis dieser Spurensuche und mit Hilfe der Broschüre Klostermedizin: die Kräutergärten in den ehemaligen Klosteranlagen von Lorsch und Seligenstadt
von Johannes Gottfried Mayer, Leiter der Forschungsgruppe Klostermedizin der Universität Würzburg, und des vom Heimat-und Kulturverein Lorsch herausgegebenen Kommentars zum Lorscher Arzneibuch nach der Transkription und Übersetzung von Ulrich Stoll und Gundolf Keil entstanden.
Ich danke der Staatsbibliothek Bamberg und Herrn Tobias Niedenthal, Uni Würzburg, für das zur Verfügung gestellte Bildmaterial1.
Die Klostermedizin hat viele Facetten: Heilpflanzen, Kräuterliköre, dampfende Gemische in Glaskolben, Klostergewölbe, fleißig schreibende Mönche und treu sorgende Nonnen. Klostermedizin bezeichnet eine Epoche der Medizin während des frühen und z.T. hohen Mittelalters, in der die Klöster fast allein die Verantwortung für die medizinische Versorgung der Bevölkerung trugen. Wie kam es dazu?
Das Ende der griechisch-römischen Kultur des Mittelmeerraumes, die neben regem Fernhandel, Schulen, Postsystem, moderner Rechtsprechung, ein Medizinalwesen mit Bädern, Kurorten, Fachärzten und Spitälern kannte, bahnte sich 541 n.Chr. an, als mit Schiffen aus Äthiopien neben begehrter Handelsware auch die Pest in Europa Einzug hielt. Der römische Kaiser Justinian unterschätzte den neuen Feind und erklärte 544 voreilig die Pest für erloschen. Drei Jahre später brach sie erneut aus und wütete bis 740.
Sie tobte in 14 Wellen über Europa hinweg und halbierte die Bevölkerung von 50 auf 25 Millionen. Das Abendland hörte auf, eine Stadtkultur zu sein. Die Menschen überlebten vor allem auf den verstreut gelegenen Dörfern und kämpften um das nackte Überleben. Analphabetentum breitete sich aus, das Wissen der damaligen Zeit ging weitgehend verloren, so es nicht in den Klöstern gerettet wurde. Ihnen oblag von da an die Verantwortung für Wissensorganisation und Wissensvermittlung – dank Benedikt von Nursia (gest. um 547). Kurz bevor die Pest ausbrach, gründete er ein Kloster auf dem Monte Cassino in Süditalien und gab dieser Mönchsgemeinschaft eine umfangreiche Regel. Neben der Empfehlung, Lesen und Schreiben zu kultivieren, lautete eine davon:
Die Sorge für die Kranken steht vor und über allen anderen Pflichten
Mit dem Christentum rückte so ein neuer Aspekt in die Mitte der medi-zinischen Versorgung, den die griechisch-römische Kultur noch nicht kannte: Barmherzigkeit und Nächstenliebe. Der Schwache und Kranke galt in der Antike zumeist als verachtenswert, die Christen sahen im Dienst an den Armen, Schwachen und Kranken den Dienst an Christus selbst. Benedikt empfahl, einen gesonderten Raum für die Kranken einzurichten, das Infirmarium, aus dem später ganze Spitäler hervorgingen. Aus dem Diener, der eigens für die Kranken und Sterbenden zuständig sein sollte, wurde der Mönchsarzt und Apotheker. Die Offizin der Klöster wurde Vorbild der modernen Apotheke und der pharmazeutischen Industrie. Ende des 17. Jhd. gab es in Nonnenklostern die ersten Apothekengehilfinnen und approbierte (!) Apothekerinnen, die damit eine Vorreiterrolle für das Vordringen von Frauen in anspruchsvolle, professionelle Berufsfelder eingenommen hatten.
Während Benedikt für die praktische Ausführung der Klostermedizin wegweisend war,sorgte der Staatsmann und Gelehrte Cassiodor (gest. um 575) für den theoretischen Unterbau. Er brachte den Benediktinern die antiken wissenschaftlichen Schriften näher, die die Kirche aufgrund deren heidnischer Herkunft missachtete, ja, geradezu verteufelte. Die Ärzteschaft des römischen Reiches (vor seinem Untergang) hatte fast ausschließlich aus griechischen Ärzten bestanden, wie Hippokrates, Dioskurides, Galen von Pergamon, Soran von Ephesus. Ihr Wissen schien in den „Justinianischen Pestwellen“ mit versunken zu sein, wurde aber u.a. von
Gelehrten wie Cassiodor zumindest zum Teil gerettet und weiter gelehrt.
Die Klostermedizin basierte also vorwiegend auf antiken Quellen, jedoch traf man eine Auswahl: während die Antike auch Organe von Tieren und Mineralien für die Herstellung der Arzneimitteln nutzte, konzentrierte sich die Klostermedizin überwiegend auf Pflanzen:
Gott hat uns aus der Erde die Arznei erschaffen und ein kluger Mann wird sie nicht verachten2..
Durch das ganze Mittelalter hindurch bestand von Seiten der Medizin das große Bedürfnis, sich gegenüber den Angriffen durch die Kirche zu rechtfertigen. Darüber hinaus ging es um eine Pharmazie, die jedem zugänglich sein sollte: kostengünstige Arzneimittel aus heimischen Kräutern3, entgegen den damals teuren Importen aus dem Orient. Eindrucksvoll dokumentiert ist beides im ältesten heilkundlichen Text des abendländischen Mittelalters, dem Lorscher Arzneibuch. Die anonyme Handschrift entstand um 795 im früheren Benediktinerkloster zu Lorsch, das übrigens in diesem Jahr ebenfalls sein 1250jähriges Bestehen feiert, und wird heute in der Staatsbibliothek Bamberg als Codex medicinalis1 aufbewahrt. Nachträge aus dem 9. und 10. Jhd. und eine ergänzte Bücherliste Kaiser Ottos III. (996-1002) zeugen von seiner über die Jahrhunderte reichende Bedeutung. Es wurde am 18.Juni 2013 als Weltdokumentenerbe von der UNESCO in das Register „Memory oft the World“ aufgenommen.
Die Handschrift beginnt mit einer „Rechtfertigung der Heilkunde“, der Rechtfertigung christlicher Heilkunst auf der Basis antik-heidnischer Medizin. Wissenschaftsfeindliche Strömungen in der Kirche hatten ab dem 6. Jhd. ärztliches Tun als Eingriff in den Willen Gottes angeprangert. Der zweite Text plädiert in Gedichtform für eine christliche Ethik im ärztlichen Handeln und für eine Kostendämpfung im mittelalterlichen Gesundheitswesen, indem einheimische Kräuter angebaut und medizinisch genutzt werden sollen 4.
Der Hauptteil des „Lorscher Arzneibuchs“ besteht indes aus fünf großen Rezeptur-Büchern mit insges. 482 Rezepten 5, fünf Büchern, in denen z.T. sehr einfache Rezepte nach Anwendungsgebieten angeordnet sind (Buch II): von Kopfschmerz und Haarausfall bis Fußgicht und Tierbissen. Buch IV ist der innerer Reinigung der Körpersäfte gewidmet mit aufwendigen Rezepten und teuren Zutaten. Im fünften Buch finden sich ebenfalls sehr komplizierte Rezepte für Salben, Pillen, Öle und Pflaster.
Ich bin genötigt, denen zu erwidern, die sagen, ich hätte dieses Buch unnützerweise geschrieben, indem sie behaupten, darin stehe nur wenig Wahres geschrieben. Jedoch wie taub hörte ich nicht auf ihre Worte, weil ich die Notlage der Hilfs-bedürftigen für wichtiger ansah als den Tadel derer, die gegen mich tobten. Deshalb werde ich ihnen erwidern, nicht mit meinen eigenen Worten, sondern mit denen der Heiligen Schriften. Ist doch die menschliche Heilkunst durchaus nicht zu verschmähen, da feststeht, dass sie den göttlichen Büchern nicht unbekannt ist. (Buch I,S. 1r)
Den Schluss des Codex bildet eine Diätetik, eine Ernährungsempfehlung mit besonderem Schwerpunkt auf Lammfleisch, Eiern, Salz, Spargel und Bier, von dem es heißt: Das Trinken von Bier, Met und Wermutwein ist für alle äußerst bekömmlich, weil ein gut gebrautes Bier eine Wohltat bedeutet und seine Wirkung hat, wie auch der Gerstenabsud, den wir herstellen. Doch ist es allgemein von kalter Natur.
Das Lorscher Arzneibuch ist also kein Kräuterbuch, in dem die Wirkung von einzelnen Kräutern beschrieben wird, wie in späteren Werken etwa in der Physica der Hildegard von Bingen (1098-1179) oder dem Macer floridus, sondern es bietet ausschließlich Rezepte, wobei ganz einfache und billige Mittel neben komplizierten und teuren Mixturen stehen. Die Herkunft der Rezepte reichen dabei bis ins 1.Jhd. n.Chr. zurück, entstammen u.a. medizinischen Schriften des Galen v. Pergamon (gest. um 210) und der Medicina Plinii aus dem 4.Jhd. oder auch volkstümlichen Quellen. Somit ist bereits vor 1250 Jahren der Versuch unternommen worden, altes Heilwissen zu sammeln und zu bewahren.
…man nimmt täglich je einen gehäuften Löffel morgens in (…)Wein, bei Fieber mit warmem Wasser(…): 1 Unze und 6 Skrupel Pfeffer, 6 Unzen Baldrian,6 Unzen Haselwurz, 7 Unzen Betonie,5 Unzen Steinbrech, 3 Unzen Röhrenkassie, 2 Drachmen Steckenwurzharz: das alles gemischt mit 2 Schoppen leicht abgeschäumten besten Honigs (Buch III, S.46r)
Als sensationelles Beispiel sei der Baldrian genannt, der sich in einem Schlafmittel findet (Buch III, Rezept Nr.35). Bis vor kurzem war man der Auffassung gewesen, dass die beruhigende Wirkung des Baldrians erstmals im 18.Jhd. erwähnt worden sei. Aber bereits der Autor des Lorscher Arzneibuchs dokumentierte diese Eigenschaft. Das Mittel soll nicht nur den Schlaf verbessern, es soll auch dazu dienen, eine gute Balance zwischen Tag und Nacht, zwischen Wachen und Schlafen zu erreichen.
…allzuviel Schlaf gleicht es mit Wachen aus, bei übermäßiger Schlaflosigkeit sorgt es für den entsprechenden Schlaf, es befreit von Erschöpfung, nimmt die Trägheit…
Dies hat die moderne Forschung bestätigt.